Bildverarbeitung

Blick durch den gläsernen Boden

Polarisationskamera erfasst mechanische Restspannungen „in einem Schuss“

21.05.2015 -

Die Prüfung von Behälterglas mittels industrieller Bildverarbeitung ist Stand der Technik. Aber ein besonders wichtiger Parameter ist in der Inline-Prüfung bisher kaum zu erfassen: Die Restspannung im Glas. Ein richtungsweisendes Kamerakonzept auf der Basis eines neu entwickelten CMOS-Bildsensors ebnet nun auch für diesen wichtigen Parameter den Weg zur 100% Kontrolle.

Ungefähr 20 Millionen Tonnen Behälterglas werden jährlich in der EU produziert. Die Hälfte davon in Deutschland (4 Millionen Tonnen), Italien und Frankreich. Bei einem mittleren Flaschengewicht von 250 Gramm sind dies etwa 16 Milliarden Flaschen pro Jahr in Deutschland. Ein riesiger Markt für die industrielle Prüftechnik und insbesondere die industrielle Bildverarbeitung. Aktuell werden mittels Bildverarbeitung hauptsächlich geometrische Parameter geprüft: Form, Maßhaltigkeit, Geradheit, Mündungsplanität und -rundheit, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Jedoch wird eine bestimmte Größe, die maßgeblichen Einfluss auf die mechanische Festigkeit und Robustheit des Glasprodukts hat, praktisch nicht geprüft: Die mechanischen Restspannungen im Glas. Warum ist das so? Wie können mechanische Restspannungen gemessen werden und wie könnte eine 100% Inline-Prüfung in Zukunft aussehen?

Warum Spannungsmessung?
Restspannungen im Glas haben einen großen Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften des fertigen Behältnisses. Sie erhöhen signifikant die Bruch- und Risswahrscheinlichkeit und reduzieren damit die Bearbeitbarkeit und Bruchfestigkeit der fertigen Glasprodukte. In besonderen Fällen ist es umgekehrt wünschenswert, dass bestimmte wohldefinierte Spannungen im Glas vorliegen, um damit bestimmte Festigkeiten gegenüber äußeren Kräften zu erzielen. Restspannungen im Glas sind somit eine technisch interessante Thematik.
Die mechanischen Spannungen im Glas entstehen beim Abkühlen aus dem glühend zähelastischen in den kühlen festen Zustand. Da Glas ein schlechter Wärmeleiter ist, erstarren zuerst die äußeren Schichten eines Glasvolumens und dann die inneren. Beim Erstarren der äußeren Schichten sind die inneren Schichten noch weich und können nachgeben. Beim Erstarren der inneren Schichten zwischen den schon erstarrten äußeren Schichten ist dies nicht mehr möglich. Ergebnis: Die inneren Schichten bauen daher gegen die äußeren Schichten mechanische Spannungen auf, die fortan im Glas „eingefroren" sind.
Die Spannungen sind umso größer, je dicker das Glas ist und je schneller die Abkühlung erfolgt. Deshalb müssen Glasprodukte sehr langsam und definiert abgekühlt werden. Ist die Glasdicke beispielsweise bei einer Flasche nicht überall gleich, so entstehen die größten Spannungen an Stellen, wo das Glas am dicksten ist oder wo starke Krümmungen der Form vorliegen, also meist im Boden der Flasche.
Um nun in der Praxis ausreichend niedrige Spannungen, beziehungsweise in speziellen Fällen Spannungen einer genau vorgegebenen Größe zu erzeugen, muss die Abkühlung sehr genau kontrolliert werden. Üblicherweise erfolgt dies mit Hilfe eines Abkühlofens, der sogenannten Kühlbahn, der mehrere zehn Meter lang sein kann. In diesem Abkühlofen werden die Flaschen auf einem Förderband sehr langsam transportiert. In Längsrichtung des Ofens muss ein bestimmtes Temperaturprofil vorliegen, das die Abkühlung bewirkt. In Querrichtung ist ein Profil erforderlich, das sicherstellt, dass die Flaschen an den Rändern des Förderbandes genau in der gleichen Weise abgekühlt werden wie die in der Mitte. Um diese Temperaturverteilungen zu kontrollieren und zu optimieren werden am Ende der Kühlbahn stichprobenartig Flaschen entnommen und im Prüflabor die Spannungen im Glas untersucht. Mit dieser Methode erzielt man im Mittel praktikable Ergebnisse, jedoch hat sie zwei wesentliche Nachteile: Die Unsicherheit der Messung aufgrund des niedrigen Stichprobenumfangs, sowie die Zeit, die von der Entnahme bis zum Vorliegen des Messergebnisses vergeht.
Wünschenswert wäre hingegen eine große Anzahl an Stichproben, am besten 100%, sowie eine kurze „Totzeit" der Messung, so dass es möglich wäre, die Kühlbahn im Sinne der klassischen Regelungstechnik zu optimieren. Dies hätte neben einer Qualitätsverbesserung der Produkte auch wirtschaftliche Vorteile: Der tatsächliche, sowie der vermeintliche Ausschuss könnte reduziert und der Energieverbrauch der Kühlbahn optimiert werden. Weiterhin könnte die 100%-Prüfung der Produkte als Grundlage für Qualitätsvereinbarungen zwischen Hersteller und Abnehmer dienen.

Die Spannungsmessung
Zur Messung der Restspannungen bedient man sich des physikalischen Effekts der Spannungsdoppelbrechung. Dieser bewirkt, dass polarisiertes Licht, welches durch gespanntes Glas hindurch tritt, in seiner Polarisation beeinflusst wird. Diese Änderung der Polarisation wird gemessen und daraus die Spannung im Glas berechnet. Das klingt recht einfach, doch wie immer steckt auch hier der Teufel im Detail. In diesem Fall ist es die Messung der Polarisation, die kompliziert und aufwändig ist. Der altbewährte Messaufbau (Prinzip nach Sénarmont) besteht aus einer Lichtquelle und einem Polarisationsfilter zur Erzeugung von polarisiertem Licht, das durch das Objekt hindurchtritt. Die eigentliche Messung erfolgt mit einem drehbaren Polfilter, dem sogenannten Analysator. Dieser wird meist manuell oder motorisch schrittweise gedreht, wodurch die Information jedoch nur für einen Punkt gewonnen wird (Abb. 1). Um eine zweidimensionale Spannungsverteilung zu erhalten, müssen daher viele Messungen an verschiedenen Stellen durchgeführt werden. Es ist ein präzises, jedoch langsames und für die Inline-Prüfung ungeeignetes Verfahren.

Polarisation pixelweise erfassen
Einen ganz anderer Ansatz liegt der am Fraunhofer IIS entwickelten Polarisationskamera POLKA zugrunde (Abb. 2). Sie ermöglicht mit einer einzigen Aufnahme die vollständige Messung der Polarisation, sozusagen „in einem Schuss". Die Polarisationskamera ist somit insbesondere für bewegte Objekte geeignet, beispielsweise für Flaschen auf einem Förderband. Hier bleiben der Kamera bei der Bodenprüfung nur wenige Millisekunden, um beim Blick in den Flaschenhals ein vollständiges Bild aufzunehmen.
Die Kamera (Abb. 3) basiert auf einem neuartigen, am Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen entwickelten CMOS-Bildsensor, der in der Lage ist, die Polarisation des einfallenden Lichts pixelweise zu erfassen.
Dies gelingt mit Hilfe sogenannter Drahtgitterpolarisatoren, die aus parallel angeordneten Drähten bestehen und seit Langem für Radio- und Mikrowellen eingesetzt werden. Die Möglichkeiten moderner Strukturierungstechnologien der Halbleiterindustrie erlauben inzwischen die Verwendung dieses Funktionsprinzips bis in den Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichtes. Dadurch ist es möglich, Polarisationsfilter direkt auf den Bildsensorchip aufzubringen, beziehungsweise in den Chip zu integrieren. Wenn man darüber hinaus nach dem Vorbild der Bayer-Matrix für Farbsensoren die Polarisationsfilter mit unterschiedlicher Orientierung in einer Gruppe von mehreren Pixeln aufbringt, ist man in der Lage, ortsaufgelöst den Polarisationsvektor für linear polarisiertes Licht vollständig zu bestimmen. Man erhält also ein komplettes Polarisationsbild.
Die Vorteile dieses Ansatzes zur Polarisationsbildgebung liegen auf der Hand:
• „One-Shot" Bilderfassung: Das gesamte Bild wird in einer einzigen Belichtung aufgenommen.
• Klein, leicht, robust und langlebig, da keinerlei bewegte Bauteile enthalten sind und somit kein Verschleiß stattfindet.
• Standardobjektive können verwendet werden (C-Mount), da keinerlei zusätzliche Optik in der Kamera enthalten ist, die Spezialobjektive erfordern würde.
• Kostengünstig bei hohen Stückzahlen, da der Bildsensor komplett in einem Halbleiterprozess hergestellt wird, ohne nachträgliche Bearbeitung.
• Miniaturisierung ist möglich, da die Größe der Kamera praktisch nur durch den Platzbedarf der Elektronik bestimmt wird.
Der beschriebene Bildsensor ist in ein Gehäuse eingebaut, in dem auch die Elektronik zur Ansteuerung des Sensors und zur Datenübertragung untergebracht ist. Der Kamera-Prototyp besitzt eine GigE-Vision Schnittstelle zum Anschluss an vorhandene Industrie-PCs. Zur Prozessierung und Visualisierung der Bilddaten dient eine eigens entwickelte Software mit Bedienoberfläche. Mit dem beschriebenen Gesamtsystem kann polarisiertes Licht ortsaufgelöst anhand eines Livebildes analysiert werden. Im speziellen Fall der Glasprüfung werden aus der Polarisation die im Glas vorhandenen Spannungen berechnet und darauf basierend per Bildanalyse eine Gut/Schlecht-Bewertung vorgenommen. Bei Bedarf können die Bilder gespeichert werden. Als Objektivadapter dient ein C-Mount-Gewinde.

Polarisationskamera in der Anwendung
Aktuell ist die Kamera in eine Prüfmaschine für die Bodenprüfung von Flaschen eingebaut und liefert bildhaft die Verteilung der Restspannungen im Flaschenboden. Die Abbildungen 4 und 5 zeigen einerseits ein herkömmliches Graustufenbild beziehungsweise ein Falschfarbenbild der Restspannungen. Die Höhe der Spannungen wird mittels der „Apparent Temper Number" (ATN), einem in der Glasindustrie üblichen Wert angegeben. Mit Hilfe der Farbskala unterhalb des Bildes können die Spannungen abgeschätzt und mittels des Fadenkreuzes die genaue Spannung an einer bestimmten Stelle gemessen werden. In der Fertigungslinie wird die Bildanalyse selbstverständlich per Software durchgeführt.
Mit Hilfe der neuartigen Polarisationskamera POLKA ist es zukünftig möglich, eine 100%-inline-Prüfung von Restspannungen bei der Herstellung von Behälterglas durchzuführen. Dadurch kann Ausschuss reduziert und durch Optimierung der Kühlbahn Energie eingespart werden. Letztendlich bedeutet dies gesteigerte Qualität und höhere Wirtschaftlichkeit.

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